Meine Wurzel ruht in der Mitte

AMARYLLIS

Warum sind die Horizonte meiner Erinnerung verhüllt?
Ich bin heimatlos im Licht meiner Lampe.
Ich erinnere mich nicht an die Flamme,
ich weiß nur, daß ein Funke mich entzündet hat
im Zwielicht.

Wenn ich hinabsteige in die Mitte,
finde ich nur mich im Schein meiner Klage;
Wo habe ich meine Wurzeln eingesenkt?
Bin ich nicht gewachsen als Pinie im Ödland?
Wer hat mich gepflanzt und wer hat mich verbannt?
Bäume tragen Kronen. Wo ist meine Krone?

Ein Baum im Wind gleicht einer Fahne im Wehen.
Ein jeder Baum ruht im Gleichgewicht zwischen
den Spiegelungen.
Könnte ich meine Krone im Haar erspüren,
müßte ich fühlen die Anker, die mich halten.
Warum schwanke ich ohne Halt?

Ich habe geträumt, ich sei eine Dattelpalme,
und ich trug in meinen Haaren Mandeln.
Ich habe geträumt, ich sei eine reife Lotus
und mein Stengel verlor sich in der Bodenlosigkeit.
Wie kann ich leben?

Als ich erwachte, trug ich Mandeln.
Und als ich als Lotus trieb im Antriebslosen,
sah ich mich an im Wasser.
Ich habe mich nicht erkannt.
Was ich sah, glich dir.

Bilder sind nur Brücken zu den Quellen,
und Lampen sind nur Erinnerungen an das Urlicht.
Eine Lotus verlor sich in die Vergangenheit,
und eine Säule trug den Bogen der Pforte.
Ich bin nur eine offene Arkade,
durch die der Wind geht.

Es ist schön, den Wind zu fühlen im Warten.
Er kühlt die Ungeduld und dämpft die Trauer.
Auch ein Tor zu sein,
ist zu vergleichen der Lagune,
die ihr Herz weiß im Verlorenen.

Was ich verloren habe, gehört mir.
Warum kann ich den Weg nicht finden?
Ich weiß nicht, wo ich wurzele
und habe vergessen, daß ich eine Krone trage.
Ich kann nicht mehr unterscheiden die Spiegelungen.
Meine Wurzel ruht in der Mitte
in Dir.

Amen
Trost für Salóme

Erklärung:

Meine Wurzel ruht in der Mitte

Der Grundton, der wie eine wärmende Hand einen vereinsamten und ratlosen Nachtschatten berührt und liebkost, ist in diesem Klagelied die Selbstaufgabe einer Seele, die Heimat gefunden hat in der Sicherheit ihres göttlichen Selbst. Dieses Selbst ist entflammt worden im Geheimnis des Aufgelöstwerdens im All-Meer des Unaussprechlichen und Unerklärbaren. Die Gleichnisse in den Bildern, Farbtönungen und Sprachmelodien haben alle ein Gemeinsames: Nämlich die Erkenntnis, daß ein ICH einzig in einem DU die Gleichung auflöst in das zweieine Amen.

Es wird gesprochen vom Zwielicht. Das Zwielicht lebt zwischen den Zeiten und zwischen den Bewußtseins-Stadien. In diesem Niemandsland hat das hungernde Öl der Lampe den Funken empfangen, der die Flamme glühen läßt und die Glut entfacht zum Leuchtfeuer. Die Flamme spricht:

Ich kenne den Baum. Der Baum ist wie eine Säule - er stemmt die Krone seines Daches und zieht seine Kraft aus dem Mutter-boden seiner angestammten Heimat. Ich weiß, daß auch ich dem Baume gleiche, und gleich dem Baume fühle ich den Wind in meinen Haaren. Aber warum fühle ich mich verlassen - ich kann mich nicht erinnern an meinen Ursprung, und mein Herz schlägt im Herzen meiner Mutter. Ich will den Traum fragen.

Der Traum spricht:

“Du bist doch eine Mandel? Warum trägst du nicht dich selbst? Schau dich an im Wasser! Dort blüht im Spiegel das wahre Antlitz. Aber im Leben der Irdischen gilt nur die Illusion der Bilder.

Die Bilder sprechen:

“Sie sagen, ich sei wie ein Mund, der die Worte gefunden hat in der eigenen Quelle und im Brunnen der vergessenen Vergangenheit. Ich selbst kenne meine Fassung nicht. Die geistigen Inhalte schreiten durch meine Lippen wie durch das Portal, das einzig lebt im Stillhalten und im Geöffnetsein als Durchgang für die Wegsuchenden und für die Angekommenen. Ich kenne den Wind nicht, der meine Flamme nährt, und ich kenne die Früchte nicht, die den Saft ziehen aus meiner kreißenden Kraft. Vielleicht wird Taijama durch meine Bilder eine neue Landschaft erschließen?”

Taijama spricht:

“Du selbst bist deine Landschaft; es ist nur das Licht, das die Farben tönt und die Spiegelung im Wasser färbt. Dein eigenes Bild kennt sein Original nicht. Denn das Göttliche Antlitz weiß ohne Erkennen.
Salám

Taijama

Anm: das Gedicht „Meine Wurzel ruht in der Mitte“ stammt ursprünglich aus Buch 4 und wurde auf Wunsch eines Freundes in Buch 5 von den Geistfreunden kommentiert.